The WanderingSoul's profile

3.715.857.311 Byte (German Writing)

3.715.857.311 Byte
(Von dem, das einmal bleibt)
[German Writing]
These Places and Memories Never Really Existed
Du hast immer gesagt, Du wünschtest Dir, dass die Zeit stillstehen würde, wenn wir stehenbleiben. Aber hat sie das nicht immer getan, die Zeit? Vielleicht hättest Du nur einmal lauschen müssen.
[2020/08/20]

261 Bilder, 925 E-Mails, 16 Videobotschaften, 14 Tagebucheinträge und 3 ½ Briefe. Das ist alles, was heute bleibt. Wenige hundert Megabyte, elektronisch gespeichert für die Ewigkeit.

Tauwetter, der Winter seinen Höhepunkt längst hinter sich. Seit wenigen Tagen wieder Vögel, die früh am Morgen scheinbar fröhlich zwitschern. Zu fröhlich für mich. Es regnet, also bleibe ich heute zuhause und nehme sie mir vor, die Daten und Überbleibsel früherer Bekanntschaften. Ich sichte diese wenigen Ordner, sortiere aus und versuche irgendeine Form hineinzubringen. Vergangene Bekanntschaften, lautet der Name, den ich wähle, zumindest fürs Erste, denn so richtig glücklich bin ich nicht damit. Mehr als zwei Jahre lang habe ich diesen Ordner von Dir kaum angerührt, noch dass ich hätte hineinblicken können.

Hast Du Dir einmal vorgestellt, wie es wäre unsere ersten Verabredungen noch einmal erleben zu können? Vielleicht als jene, die wir damals waren – ein wenig unbeholfen, voller Sorgen und Ängsten. Aber auch Sehnsucht, und vagen Träumen? Oder gar als jene, die wir jetzt heute sind; nur irgendwie ungeschehen gemacht, was uns widerfahren ist und alles mit der Zeit nur dunkler und farbloser werden ließ? Noch einmal die erste Begrüßung am Hauptbahnhof erleben, kein schöneres, passenderes Wetter, das wir hätten haben können auf unserem ersten Spaziergang durch die Altstadt. Vorbei an Kirchen und Fachwerkshäuern. Seltsam, dass ich damals gar nicht gewusst hatte, wie Du eigentlich aussiehst. Zusammen über die Brücke, am Ufer des Flusses entlang, ein Straßenmusiker, der ausgerechnet unsere Musik dort spielte. Welch Ironie, dass wir bereits in den ersten Minuten recht beiläufig darüber gesprochen hatten, was uns Jahre später, wenn es nicht das Leben selbst war, auseinandertrieb. Wie Herbstlaub im Wind. Dir noch einmal gegenüber zu sitzen, Dich lächeln zu sehen. Alles noch offen, unbeschrieben zwischen uns beiden. Nur wir selbst schon mit jeder Menge eigener Seiten, durch die wir erst nach und nach blättern werden. Wenige Wochen später dann die zweite Verabredung. Gemeinsames Einkaufen und Kochen nach einem Rezept von Dir. Und wieder nicht ohne Ironie, dass wir ausgerechnet Harry & Sally ansahen. Wieso Du bei mir schliefst, frage ich mich noch heute. Ich glaube nicht, dass Du zuvor bereits viele Verabredungen hattest. Und gekannt hast Du mich ja eigentlich auch nicht so richtig. Wir beide bei strömendem Regen auf der kleinen Eisenbahnbrücke stehend, voll von Euphorie und der Frage, wieso ich Dich jetzt nicht einfach umarme, wenn Du schon so vor mir stehst, ein strahlendes Gesicht zwischen dem von mir geliehenen schwarzen Kapuzenpullover. Und ich Dich schließlich huckepack in den dritten Stock hinauftrage, Dir noch ein Glas warme Mich einschenke. Wenn ich es schreibe und lese, klingt es wie aus einem Buch und nicht nach meinem wirklichen Leben. Dann, die dritte Verabredung, die Wogen doch noch einmal geglättet. Die Stadt unter uns, gelb-rote Lichter unter Abendhimmel, blaue Stunde. Dein und mein Flüstern, und wieder das Zwitschern von Vögeln. Wenige Wochen zuvor wir beide am Bahnhof, all die unausgesprochene Traurigkeit und Ausweglosigkeit zwischen uns. Stumme Schreie. Hast Du gewusst, dass ich damals dachte, ich würde schon viel zu weit und viel zu tief im Wasser stehen, um von dort noch irgendwohin zurückkehren zu können? Und doch waren wir dann schließlich hier, saßen zusammen im Bus und fuhren immer weiter hinab in die Stadt. Geblieben ist davon am Ende ein „Sei kein Adam“; und die Wut über all das Unvermögen nicht zu wissen was und wer man eigentlich ist.

Doch jetzt, wo ich nichts mehr fühle, navigiere ich nüchtern durch all das hindurch. Ich lösche vereinzelt, verschiebe und kategorisiere. So, wie ich das immer mit Daten mache. Nur dass es diesmal keine Daten sind, sondern mein Leben. Aber dass das, was ich da sehe, wirklich einmal zu mir gehört hat, kann ich heute gar nicht mehr glauben. Ich bin erstaunt, wenn ich mich selbst an Deiner Seite sehe. Dass ich wirklich einmal jemandem so vertraut und nahe gewesen war. Dass ich tat, was die meisten anderen Menschen Tag für Tag tun. Manchmal da bin ich einfach nur überrascht, und an anderen Tagen da scheint mir etwas zu fehlen. Eine Lücke, die ich bis heute nicht schließen konnte. Und jetzt, wo ich selbst ein anderer geworden bin, vielleicht auch gar nicht mehr kann. Ab und an unterbreche ich mein Sortieren, sehe für einen Moment nach draußen, hinein in den Regen, der vor dem Fenster scheinbar endlos fällt, so als würde er gar nie wieder aufhören wollen. Der Schnee verschwindet nach und nach, wird vom Regen fortgewaschen und seiner Spuren beraubt, als hätte es nie welchen gegeben. Als müsste alles wieder rein und frisch sein und von neuem beginnen. Und ebenso wird langsam und doch stetig aus dem Chaos vergangener Tage Ordnung, zumindest ein wenig.

3.715.857.311 Byte sind es, die am Ende von uns beiden bleiben. Das, und etwas Sehnsucht. Die Daten werden überdauern, mit etwas Glück sogar mich selbst. Und die Sehnsucht, die Sehnsucht wird vergehen. So wie der Schnee auf schmutzigen Straßen.

2019/05/05
3.715.857.311 Byte (German Writing)
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